Published on Dezember 20th, 2013 | by Georg Dufner
0Praxis, Symbol und Politik.
Das chilenische Exil in der Bundesrepublik nach 1973
Mit Staatsstreich vom 11. September 1973 begann in Chile die systematische Verfolgung der Gegner des Pinochet-Regimes. Vor vierzig Jahren kamen die ersten Flüchtlinge auch in die Bundesrepublik.
Wer damals in Chile als echter oder vermeintlicher Gegner des vehement antikommunistischen Pinochet-Regimes gefasst und für potentiell gefährlich befunden wurde, musste mit Gefangenschaft, Folter, Verschleppung und Ermordung rechnen. Unter diesen Umständen setzte unmittelbar nach dem Putsch eine immense Fluchtwelle ins benachbarte Ausland und in die Botschaften von Santiago de Chile ein. Die Botschaft der Bundesrepublik war – wie die anderen Botschaften auch – auf diese Notlage kaum vorbereitet.1
Das Verhalten deutscher Diplomaten, des Auswärtigen Amts und der Bundesregierung insgesamt in der Frage der Aufnahme von chilenischen Flüchtlingen hat während der 1970er Jahre und später immer wieder heftige Kritik hervorgerufen. Dieser Artikel behandelt daher sowohl die Praxis der Aufnahme chilenischer Flüchtlinge als auch die dazu gehörigen politischen Entscheidungen. Obwohl das Grundgesetz 2 „politisch Verfolgten“ das Recht auf Asyl zusicherte, war die Aufnahme chilenischer Exilanten beileibe kein klar geregelter, rein juristischer Vorgang. Vielmehr wurde angesichts der enormen Symbolik und des weltweiten Echos des Putsches jede mit Chile zusammenhängende Fragestellung quasi automatisch zu einer umstrittenen politischen Auseinandersetzung. In der innenpolitischen Situation der Bundesrepublik der 1970er Jahre entwickelte die Frage der Aufnahme oder Ablehnung von Chilenen enorme politische Sprengkraft.
Wie verhielten sich deutsche Behörden unter diesen Umständen, verglichen mit anderen Staaten? Hierzu muss zunächst die Lage in Chile betrachtet werden.
Putsch und Verfolgung in Chile
Grausamkeit und politische Verfolgungen gehörten zu den Begleiterscheinungen der Politik in vielen lateinamerikanischen Ländern nach 1945, was diese historische Phase im Gegensatz zu Europa und Nordamerika vielfach als einen „Heißen Krieg“ erscheinen ließ. Die besonders systematische Verfolgung der Opposition in Chile nach 1973 war jedoch auch im Kontext Lateinamerikas keine Selbstverständlichkeit. Insbesondere zu Beginn vermuteten Beobachter im In- und Ausland eine kurze, apolitische Militärherrschaft und schnelle Rückkehr zu Wahlen und Demokratie. Dabei unterschätzten sie jedoch die vehement antikommunistische Stoßrichtung des chilenischen Militärregimes unter August Pinochet, dessen Überzeugung einer quasi messianischen Sendung gegen den Weltkommunismus sich in eine vehemente Verfolgung politischer Gegner übersetzte. (Die Tatsache, dass er damit in einer Phase der Entspannung zwischen den Supermächten quasi aus der Zeit fiel, sollte sich später noch bemerkbar machen.)
Die Gewalt gegen die Opposition war massiv: Höchste Parteimitglieder der ehemaligen Unidad Popular– Koalition (im Weiteren: UP) wurden interniert, mittlere Ränge verfolgt und dabei oft gefoltert oder ermordet, niedrigere und weniger wichtige interniert und/oder ins Exil gezwungen. Die wichtigsten Gegnergruppen wurden zwischen 1974 und 1977, nach Rangfolge wahrgenommener Bedrohung für das Regime systematisch abgearbeitet. Politische Verfolgung bedrohte jedoch nicht nur UP-Mitglieder sondern auch andere, mit ihr verbundene Personengruppen, etwa Chilenen in Beamten- und Regierungsposten, lateinamerikanische Ausländer, die vor 1973 vor rechtsgerichteten Diktaturen nach Chile geflüchtet waren, sowie Angehörige anderer linker Organisationen außerhalb der UP, etwa der Gewerkschaften oder der militanten außerparlamentarischen Linken. Die nach 1990 eingesetzten Untersuchungskommissionen zählten 2.279 Todesopfer, davon 2.115 Opfer von Menschenrechtsverletzungen und 164 von politischer Gewalt. Hinzu kamen 641 ungeklärte Fälle und 957 Verschwundene. Eine weitere Kommission nannte 2011 die Zahl von 38.283 Fällen von Folter und politischer Gefangenschaft.
Langfristig provozierte die Verfolgung das massenhafte chilenische Exil mit dem Schwerpunkten in Lateinamerika, Nordamerika, West- und Osteuropa.
Botschaftsfluchten und die deutsche Öffentlichkeit
Auf den resultierenden Ansturm von Botschaftsflüchtlingen war die bundesdeutsche Botschaft nur schlecht vorbereitet. Vor Ihren Toren spielten sich in den letzten Monaten des Jahres 1973 dramatische Szenen ab, so etwa als Schutzsuchende bei ihrem Einlass in die Botschaftsresidenz von den Militärs scharf beschossen wurden.
Flüchtlinge wurden zwar eingelassen, jedoch stellte man sich in der Botschaft auf den legalistischen Standpunkt, außerhalb der Bundesrepublik kein Asyl gewähren zu können. Man sah sich weder aus dem Grundgesetz noch durch die Genfer Flüchtlingskonvention dazu verpflichtet. Bald jedoch erhielt man Weisungen aus dem Auswärtigen Amt (AA), den Botschaftsflüchtlingen „einstweilige Zuflucht“ nach Völkergewohnheitsrecht zu gewähren. Diese wurde jedoch nur Personen in „unmittelbarer Lebensgefahr“ zugestanden. Anderen Flüchtlingen gab man die Empfehlung in asylgewährenden Botschaften Zuflucht zu suchen, beispielsweise in der der Niederlande, Schwedens oder lateinamerikanischer Staaten – teilweise verbunden mit der Erlaubnis anschließend über diese Länder in die Bundesrepublik einreisen zu dürfen. Aus den Archivquellen ergibt sich kein direkter Hinweis darauf, dass diese Weiterleitung zu direkten Repressalien geführt hätte. Der damalige Botschafter Kurt Luedde-Neurath beteurte „kein Flüchtling verließ die Botschaft ohne angehört worden zu sein“.3
In der bundesdeutschen Öffentlichkeit, in Medien und im Bundestag wurden jedoch insbesondere aus dem linken Spektrum bald Zweifel am Botschafter laut, wobei seine Arbeit für das Auswärtige Amt während des Dritten Reichs negativ herausgestellt wurde. Auch die Strategie des AA, die Konfrontation mit dem Regime möglichst zu vermeiden, wurde sehr kritisch kommentiert. Obwohl die Zweifel an Luedde-Neurath später ausgeräumt wurden,4 blieben berechtigte Vorbehalte vor allem gegenüber den bundesdeutschen (Honorar-)Konsuln in Chile bestehen. Diese rekrutierten sich häufig aus der Gruppe der so genannten Deutsch-Chilenen, die weder aus Ihrer Sympathie für die Diktatur noch aus ihrer Abneigung gegen die Unidad Popular einen Hehl machten. Berichte über Konsuln, die hilfesuchenden Chilenen die Unterstützung verweigerten, tauchen mehrfach in den Aktenbeständen des AA auf. 5
Die Aufnahmepraxis der Behörden rief Kritik hervor. Im Gegensatz zu einigen anderen westeuopäischen Staaten fiel die Überprüfung der Chilenen in der Bonner Vertretung nach Sicherheitskriterien und Arbeitsmarktfähigkeit angesichts der politischen Umstände außergewöhnlich gründlich aus: Am 8. November 1973 entsandte Bonn einer „Arbeitsgruppe“ aus zwei prüfenden Beamten (jeweils einer aus den Bundesamt für Arbeit und einer aus dem Verfassungsschutz) an die Botschaft Santiago. Die von einigen Bundesländern geforderte ebenfalls stattfindende Sicherheitsüberprüfung durch den Verfassungsschutz ließ die Chile-Solidaritätsbewegung und SPD-Linke im Bundestag schäumen, letztere witterte „Gesinnungsschnüffelei“, während insbesondere konservative Ministerpräsidenten im Kontext von Kaltem Krieg und Deutschem Herbst die genaue Überprüfung der Chilenen forderten: Immerhin stellten sie die erste bedeutende Gruppe politisch Verfolgter von der anderen Seite des ideologischen Spektrums dar, nachdem bis dato vor allem die Flüchtlinge aus den kommunistischen Diktaturen Osteuropas Aufnahme gefunden hatten. Das Kabinett sah sich genötigt eine Erklärung abzugeben, dass bis Dezember 1973 noch kein in der Botschaft Schutz Suchender wegen Sicherheitsbedenken abgelehnt worden sei.
Insgesamt konnten 320 Botschaftsflüchtlinge in die Bundesrepublik ausreisen, die sich bis zum 10. Dezember auf das Gelände der bundesdeutschen Vertretung geflüchtet hatten. Am darauffolgenden Tag errichteten die chilenischen Militärs (wie zuvor auch vor anderen diplomatischen Vertretungen, die Flüchtlinge aufnahmen) auch vor den Toren der Bonner Botschaft und Residenz Kontrollposten, was Fluchten praktisch unmöglich machte. Wenige Tage später reiste daher die Arbeitsgruppe wieder ab.
Bonns „humanitäre Aufnahmeaktion“
Dennoch wurden auch nach Dezember 1973 weiterhin chilenische Flüchtlinge aufgenommen, deren „Leben, Gesundheit oder Freiheit aus politischen Gründen unmittelbar und in hohem Grade gefährdet“ seien, so das AA. Der ebenfalls 1973 erlassene Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte wurde zumindest unter der Hand als ein Grund dafür genannt, keine sozialen Gründe oder etwa die alleinige Ablehnung der Diktatur als Aufnahmegrund zählen zu lassen.
Möglich wurde die Aufnahme politisch verfolgter Chilenen durch die Strategie der Junta, missliebige Personen aus der Haft direkt auszuweisen. In einer Zeit, in der Santiago jeden positiven Kontakt zum westlichen Ausland pflegen musste, konnte Bonn durch Bitten um Freilassungen aus „humanitären Gründen“ einige Erfolge erzielen. Die sich sehr dezidiert auf humanitäre Gründe und eben nicht auf politische Verfolgung beziehende Aufnahmeaktion sollte nach dem Willen des AA gegenüber der Junta den Eindruck vermeiden, die Bundesrepublik mache sich zu einem „Sammelbecken der Opposition“. Sie stellte somit einen Versuch dar gegenüber Santiago diplomatische Normalität zu bewahren und gleichzeitig in begrenztem Umfang Flüchtlinge aufzunehmen.
Die Aufnahmeaktion wurde zusammen mit dem chilenischen „Nationalen Hilfskomitee für Flüchtlinge“ (Comité Nacional de Ayuda a los Refugiados, CONAR) durchgeführt, dem Kirchenvertreter, ein Hochkommissar des UNHCR und das Intergouvernementale Komitee für europäische Migration (ICEM) angehörten. Den Vorsitz führte der deutsche Propst der lutherischen Kirche in Chile und spätere Generalsekretär von Amnesty International in der Bundesrepublik, Helmut Frenz. CONAR erhielt am 3. Oktober 1973 offiziellen Status durch die Junta. Ab dem ersten Jahrestag des Putsches konnten politische Häftlinge, auf deren Verbleib in Chile das Pinochet-Regime keinen Wert legte, einen Antrag bei CONAR stellen und erhielten daraufhin unter Bedingung der Aufnahmezusage durch die Bundesrepublik eine Ausreiseerlaubnis.
Die Chilenen wurden in mehreren Quoten aufgenommen und auf die Bundesländer verteilt, wobei sich die Bundesregierung beeilte zu betonen, dass es sich dabei nicht um „Kontingentflüchtlinge“ handelte, da die Quoten stetig erweitert würden. Auf diese Art und Weise gelangten bis 1979 etwa 2.700 Chilenen in die Bundesrepublik, wo Ihnen weitgehende Aufenthalts- und Arbeitsrechte eingeräumt wurden. Mit insgesamt knapp 5.400 Personen wurden Chilenen dadurch zwischenzeitlich zur größten Gruppe von Lateinamerikanern in der Bundesrepublik, noch vor Brasilien und Argentinien. 6 Außerdem wurden etwa 1500 von Verfolgung bedrohte Lateinamerikaner andere Nationalitäten aus Chile aufgenommen. Angesichts der enormen Flüchtlingsströme – einige Autoren schätzen das chilenische Exil während der Diktatur auf 1/10 der chilenischen Gesamtbevölkerung von damals 11 Millionen Einwohnern – erschienen diese Zahlen dennoch niedrig. Es ist jedoch zu beachten, dass ein bedeutender Teil von Chilenen das Land nicht nur aufgrund politischer Verfolgung, sondern auch aus wirtschaftlich-sozialen Gründen verließ.
Konflikte um die bundesdeutsche Aufnahmebereitschaft
In der öffentlichen Diskussion, die in hohem Maße durch die staatskritischen Gruppen der Chile-Solidaritätsbewegung (u.a. die daran teilnehmenden K-Gruppen) geprägt war, wurde die sozialliberale Bundesregierung weiterhin scharf für ihre vermeintlich zu zögerliche Aufnahmepolitik angegriffen. Der Vielzahl von Aufnahme- und Arbeitsplatzangeboten in der Bundesrepublik, welche Gewerkschaften, NGOs (wie beispielsweise Amnesty International), Kommunen, Universitäten, Unternehmen und Privatleute beim AA stand tatsächlich eine nur relativ begrenzte Anzahl chilenischer Exilanten gegenüber. Nach der Lektüre der Originaldokumente scheint es allerdings plausibel anzunehmen, dass dieser „Flaschenhals“ – also die vermeintlich zu geringe Aufnahmezahl chilensicher Flüchtlinge – mehr auf das Freilassungsverfahren in Chile als auf die politische Linie des AA zurückzuführen war. Dennoch kamen immer wieder Episoden in die Öffentlichkeit, die die scheinbare Unwilligkeit der Bundesregierung belegen sollten und Empörung verursachten, etwa die Ablehnung eines Jumbo-Jets, den die Fluggesellschaft „Condor“ zum Ausfliegen von Flüchtlingen kostenlos zur Verfügung stellen wollte. Die Mitteilung des AA, dass die regulären Lienienflüge dazu völlig ausreichten, verhallte weitgehend ungehört.
Aufnahme, Unterbringung in der Bundesrepublik
Nicht nur die Aufnahme, sondern auch die Verteilung der Flüchtlinge auf die einzelnen Bundesländer wurde schnell zum instrumentalisierten Politikum. Bald nachdem die ersten Chilenen am 6. Dezember 1973 am Frankfurter Flughafen ankamen, entwickelten sich Konflikte zwischen der Bundesregierung und einigen, vornehmlich unionsregierten Ländern, die der Aufnahme nur unter der Bedingung verschärfter Sicherheitsüberprüfungen zustimmten. Das gestürzte sozialistische Experiment Allendes wurde als Brutstätte kommunistischer, sozialistischer und linksterroristischer Gruppen angesehen, die auch für die Bundesrepublik gefährlich werden könnten.
Für die innenpolitische Auseinandersetzung in der Bundesrepublik mussten die chilenischen Flüchtlinge als Exempel herhalten: Der baden-württembergische Ministerpräsident Filbinger erklärte 1974, unter einer größeren Gruppe aufzunehmender Chilenen befänden sich acht „schwierige Fälle“ deren Aufnahme aus Sicherheitsgründen nicht hinzunehmen sei, was jedoch die „Leichtfertigkeit mit der die Bundesregierung die Sicherheitsinteressen der Bürger aufs Spiel“ setze illustriere. Von links wiederum wurde harsche Kritik an den zögernden Bundesländern laut, unter denen sich neben Baden-Württemberg unter anderem Rheinland-Pfalz, das Saarland und Schleswig-Holstein befanden. Ab 1977 wurden auch in Nordrhein-Westfalen Chilenen die unter Verdacht standen extremistischen Vereinigungen anzugehören wieder Einzelfallprüfungen unterzogen.
An diesen Episoden kann man die enorme Symbolhaftigkeit und besondere Brisanz Chiles ablesen. Einerseits waren die Chile-Flüchtlinge quasi die Inkarnation der mit Allendes gescheitertem Versuch eines demokratischen Sozialismus assoziierten Hoffnungen, andererseits jedoch war Chile zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich zu einem politischen Blankoscheck geworden: Von allen ideologischen Strömungen der Alten wie der Neuen Linken wurde Allendes Vermächtnis und Scheitern zur Bestätigung der eigenen Position herangezogen. Ob in den Flügelkämpfen der SPD, in der Auseinandersetzung mit den Jusos, Vertretern des DGB, innerhalb der sektiererischen K-Gruppen oder zwischen den Ministern der sozialliberalen Koalition: Chile wurde zur beliebten Bühne politischer Inszenierungen. In geringerem Maße galt das auch für die bundesdeutschen Konservativen. Hier galt Allendes Sturz als bester Beleg für die Unvereinbarkeit von Sozialismus und Demokratie. Vor dem Hintergrund des politisch Exemplarischen konnte sich auch Franz-Josef Strauß gegenüber seinem Kontrahenten Helmut Kohl als letzter aufrechter Antikommunist der Union profilieren, indem er 1977 Chile und Pinochet einen Besuch abstattete. Zweifellos sagen diese Instrumentalisierungen und die erwartbaren Empörungsmechanismen auf der jeweils anderen Seite des politischen Spektrums uns weitaus mehr über den Zeitgeist der Bundesrepublik in den 1970er Jahren als über die Chilepolitik, die Situation in Chile selbst oder die Lage der Flüchtlinge.
Die Umstände, unter denen Chile auf internationaler Ebene exemplarische Bedeutung für die Menschenrechtsfrage erhielt, hat Jan Eckel 7 hervorragend zusammengefasst. Hinzuzufügen wäre, dass die lange Tradition deutsch-chilenischer Beziehungen entscheidend war für die große Aufnahmebereitschaft durch bundesdeutsche Institutionen, etwa Parteien, Gewerkschaften und Kirchen, die auf lange Partnerschaften mit Chile zurückblicken konnten. Viele der Exilanten wurden daher formal (also etwa bezüglich Unterbringung und beruflich) dank der Bemühungen ihrer deutschen Partner gut integriert. Einige praktische Probleme des chilenischen Exils in der Bundesrepublik sollten jedoch erwähnt werden. So erschwerte beispielsweise der Glaube an ein rasches Ende der Militärdiktatur den Spracherwerb und die alltägliche Integration in dem kulturell fremden Umfeld. Der Verlust sozialer Bindungen und die oft unterqualifizierte Beschäftigung der überwiegend der Mittelschicht entstammenden Exilanten in der Industrie sorgten für Frustration. Der bereits erwähnte Trend zur Reglementierung der Ausländerzahl im Sinne des Anwerbestopps führte zu einer Situation des – wie es ein Exilchilene schilderte – „Zusammentreffens einer Gruppe, die nicht kommen wollte, mit einer Gruppe die nicht empfangen wollte“. Auch wenn diese Schilderung angesichts der großen Solidaritätsbewegung als etwas überzeichnet erscheint, so mag sie möglicherweise für den Durchschnitt der bundesdeutschen Bevölkerung zutreffend gewesen sein.
Fazit – Chilenische „Kontingentflüchtlinge“ unter neuen Vorzeichen
Wie lässt sich also die Aufnahme der Flüchtlinge und das chilenische Exil in der Bundesrepublik insgesamt und mit Blick auf andere Staaten Westeuropas bewerten? Tatsächlich spielte die Gruppe der Chile-Flüchtlinge quantitativ für die Bundesrepublik keine entscheidende Rolle. Allerdings stellten die Chilenen die erste bedeutende Gruppe außereuropäischer Flüchtlinge dar, noch bevor vietnamesische Boat-People in größerer Zahl aufgenommen wurden. Eine Besonderheit war darüberhinaus die Tatsache, dass sie in der Logik des Kalten Krieges der ideologisch anderen Seite anhingen, was die Aufnahme zu einer teils umstrittenen Praxis machte.
Mit Blick auf die Chilenen lehnte die Bundesregierung den Ausdruck Kontingentflüchtlinge ab: Eine Kontingentierung (Begrenzung) der Chile-Flüchtlinge finde nicht statt, da die Zahl nach Bedarf ausgeweitet werde. In der Realität begrenzte sich die Zahl der Chile-Flüchtlinge überwiegend ohne das Zutun Bonns vor allem durch die chilenische Ausweisungs- und Abschiebepraxis. Nicht quantitativ ermessen lässt sich, inwiefern die mit dem Pinochet-Regime sympathisierenden bundesdeutschen Konsule Fluchten erschwerten oder gar Lebensgefahr für Schutzsuchende verursachten. Anhand der Zahlen aufgenommener Chilenen kann man der Bundesrepublik keine – wie zeitgenössisch oft behauptet – besonders restriktive Aufnahmepraxis attestieren. In Westeuropa nahmen (Stand 1977) ansonsten nur die Niederlande und Schweden mehr Chilenen auf.
Durch die intensiven politischen Partnerschaften chilenischer Parteien und Organisationen mit deutschen Gegenübern bildeten sich starke Netzwerke, die die politische Erneuerung der chilenischen Linken weg von Marxismus und Militanz hin zu sozialdemokratischen Positionen förderten. Zusammen mit der chilenischen Christdemokratie spielten diese Kräfte eine wichtige Rolle für den Aufbau von Opposition in Chile, bei der politischen Bekämpfung der Diktatur während der 1980er Jahre und bei der Rückkehr zur Demokratie 1988/89.
(alle Fotos & Grafiken: (c) Georg Dufner)